Dienstag, 29. November 2016

Ichichich. Der Selfiejournalismus

Sie ist noch gar nicht solange her, die Zeit, als Ichsagen als unhöflich galt. Vorbei: die Politik in der ersten Person, in den 70er Jahren erfunden, hat sich mittlerweile in Politik und Medien breit gemacht. Wer aus dem eigenen Inneren schöpft, gilt als authentisch. Den Politiker soll das Persönliche und Private zum Sympathieträger machen, dem Journalisten erspart es harte Arbeit – denn wenn man sich selbst zum Gegenstand der Beobachtung machen kann, fällt aufwendige Recherche flach. Selbermachen führt zur Erkenntnis: Wer wissen will, wie es sich unter dem Ganzkörperschleier lebt, zieht sich einen an und versucht es mit Spaghettiessen. Der Leser lebt und leidet mit.

Selfiejournalismus kann durchaus unterhaltsam sein. Weniger lustig wird’s, wenn das vermeintlich Authentische auch gleich noch als exemplarisch gilt.

Das Phänomen ist nicht neu: beim „Spiegel“ etwa heißt ein Artikel treffenderweise „Geschichte“, die am besten mit einem Einzelschicksal beginnt, das man dann aufs Große Ganze hochrechnet. Nun, ein subjektiv schweres Schicksal mag man bedauern, aber dass es fürs Ganze steht, müsste eine saubere Recherche erst beweisen.

Genau da beginnt das Problem. Die Vorstellung, dass das, was das Ich erlebt, universal und umstandslos verallgemeinerbar sei, verdirbt nicht nur das klassische journalistische Geschäft, in dem streng zwischen verallgemeinerbaren Fakten und subjektivem Befinden  unterschieden wurde, es schadet auch dem politischen Diskurs.

Arbeitsministerin Andrea Nahles etwa erzählt vom Vater und dem kleinen Dorf in der Eifel, wenn sie ihre Rentenpolitik begründen soll. Papi ist also der Maßstab für alle Menschen in der Bundesrepublik und die Eifel ist die Welt. Ähnlich Familienministerin Manuela Schwesig, die einen Schlosser zum Vater und einen Polizisten zum Neffen hat. Mit derart weitem Erfahrungshorizont wird man natürlich zu einem jener Experten, wie sie Plenarsäle und Talkshowrunden bevölkern. 

Experten, die aus der eigenen Biografie schöpfen und sich auf das verlassen, was sie „Bauchgefühl“ nennen, etwas, das ihnen sagt, was gut und richtig ist. Selbst die sonst eher nüchterne Bundeskanzlerin bekannte sich kürzlich zu einem „absolut sicheren Gefühl“, in der fälschlichen Annahme, wir lebten in postfaktischen Zeiten und die Menschen verstünden nur noch das, was nicht ihren Verstand anspricht, sondern geradewegs aufs Herz zielt.

Das alles könnte ein Irrtum sein. Wer die Kommentare in den Onlineausgaben der Zeitungen liest, hat nicht den Eindruck, dass die ja offenkundig politisch Interessierten, die sich dort zu Wort melden, Nachrichten vom Ich und Appelle ans Herz vermissen. Eher bemängeln sie, dass man ihnen klare Angaben zur Lage vorenthält. Sie fordern Sachdienliches, nicht Gefühlvolles.

Politik, so glauben ihre Kommunikatoren heute, braucht eine Erzählung. Ein Gefühl. Etwas, das betroffen macht. Alles, nur keine kalten Fakten oder soetwas Brutales wie die Wirklichkeit. Politik ist heute ein einziger großer Roman namens „Der Alte aus der Eifel.“ Das, in der Tat, ist postfaktisch. Das mag authentisch sein, vertrauensbildend ist es nicht.

Sie hat es einst treffend gesagt, Ingeborg Bachmann: Die Wahrheit ist den Menschen zuzumuten. Die aber ist mit subjektiver Befindlichkeit nicht zu verwechseln.

3 Kommentare:

  1. Nun, die interessante Frage ist doch, wie kommen diese, wie Sie sie nennen, "Kommunikatoren" zu solchen Ansichten, die u.a. zu völlig falschen Prognosen führen, wie z.B. die letzten Wahlen in den USA und Frankreich gezeigt haben, und warum glauben Politiker diesen Leuten.
    Eine naheliegende Antwort wäre wohl, die Ausbildung in den Geisteswissenschaften hat sich völlig von der Realität abgekoppelt und bringt realitätsferne Fachidioten hervor, die im besten Falle nicht mehr zw. Wunsch und Wirklichkeit unterscheiden können und im schlimmsten Falle die Wirklichkeit explizit ignorieren oder gar leugnen.
    Geglaubt wird ihnen offenbar, weil einerseits die Massenmedien scheinbar einfach vermittelbare Lösungen bevorzugen und andererseits, weil die sogenannten Eliten, egal ob sie sich nun eher links oder rechts verorten, eine unterschwellige Verachtung des "Pöbels" pflegen, was sie aber natürlich nie zugeben würden.
    Alle zusammen kommen damit durch, weil die Gesellschaft schon seit geraumer Zeit wieder voll auf dem Weg in eine neue selbstgewählte Unmündigkeit ist.
    Kant wäre entsetzt.
    Tja.
    MfG Ivo

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  2. Die Kommunikatoren der Politik liegen mit ihrer Einschätzung der Realität genau so krass daneben, wie das Heer der Finanzexperten, die ihre volkswirtschaftlichen Theorien für die Wirklichkeit halten. Im Falle der Politiker wäre zuhören besser, als die Wähler zu beschimpfen und in die Ecke zu stellen (merkwürdigerweise sind linke Ecken weniger anrüchig als rechte). Es kommt mir so vor, als wäre das Gros der Wähler weit mündiger als viele Politiker.

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  3. Das Sie sich mit diesem Beitrag am allgemeinen Intellektuellen-Bashing beteiligen, finde ich beschämend. Mir geht auch hier diese "die Stimme des Volkes"-Attitude gehörig auf die Nerven. Sie und andere (z.B. Herr Broder) im Moment aktuelle Kritiker sind ja selbst Teil des journalistischen Establishments und publizieren regelmäßig in der WELT, NZZ, etc. Zum Inhalt: Mir ist es allerdings lieber von einer Exekutive regiert zu werden, die durch ihre Herkunft und Lebenserfahrung noch Bezug zur allgemeinen Realität hat/hatte als von einem Trumpschen Milliadärs-Kabinett. Das heisst ja nicht, dass sie dadurch zu besseren Menschen werden - siehe Herr Schröder und seine Agenda - aber es gibt zumindest einen gemeinsamen Bezugsrahmen. Keiner ist repräsentativ, das ist ja wohl ihre doch etwas banale Aussage, trotzdem ist es nicht falsch am Alltäglich-Gemeinsamen anzusetzen, wenn man für andere handeln will/muss (=Exekutive). Ich möchte mal sehen, wie Kritikerinnen wie Sie reagieren würden, wenn jetzt die Tageszeitungen nur noch mit wohl fundierten soziologischen Statistiken und Modellen daher kommen würden... Nachdem ich ihr interessantes Interview im Deutschlandfunk gehört habe, bin ich nun allerdings von der Platthiet ihrer Argumentation etwas geschockt. Für mich lautet die Quintessenz ihrer Aussage in diesem Artikel eigentlich: Wir wollen mehr "Fakten" in den Medien, aber natürlich so wie wir sie sehen. Ich glaube, das nennt man Lobbyismus.

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