Montag, 4. Juli 2016

Politik und Literatur. Man sollte sie nicht verwechseln

Ein Roman lebt von seinen Figuren und ihrer Geschichte, von ihren Eigenheiten und ihren mehr oder weniger irrigen Vorstellungen von Gott und der Welt, der Liebe, den Menschen. Wer aus der Perspektive seiner Charaktere schreibt, muss radikal subjektiv sein, alles verstehen, viel verzeihen. Keine Figur, die glaubhaft sein soll, steht für irgendetwas anderes als für sich selbst.

Germanisten mögen sich hernach über das Werk beugen und das Schicksal der Helden für exemplarisch erklären. Doch wer seine Figuren dazu benutzt, um an ihnen ein Exempel zu statuieren, muss es schon sehr geschickt anstellen, um seine Leser zu fesseln, denn die Moral von der Geschicht’ ist schnell erzählt und Leser lieben es nicht, wenn man sie belehrt, statt sie für ein menschliches Schicksal zu interessieren.

Das Allgemeine, etwa das ganz große schicksalhafte Verhängnis, interessiert nur insofern, als es den Protagonisten auf die Füße fällt. Die Zeiten der „politischen Literatur“ sind gottlob vorbei, in denen alles Gleichnis war. Eine Geschichte, in der ein Kapitalist eine Rolle spielt, sagt nichts Verallgemeinerbares über den Kapitalismus, die Geschichte von Blaubart ist keine gültige Aussage über die Monarchie und ein preußischer Grundbesitzer macht noch keine Analyse des Junkertums. Heinrich Manns „Untertan“ steht nicht pars pro toto für die Deutschen und der Glöckner von Notre Dame nicht für alle Buckligen.

Die Schriftstellerin Antje Ravic Strubel definierte kürzlich als „Aufgabe von Schriftstellern“, „konkret zu werden, Geschichten zu erzählen, in denen die Individuen dann nicht einfach ‚Flüchtling’ heißen und in einer Statistik mit großen Zahlen verschwinden.“ „Es reduziert das Individuum auf einen Fall, es bringt Unterschiede zum Verschwinden. Solange man verallgemeinert, geht einen nichts wirklich an. Es gibt keine Identifikation mit dem Leid und keinen Respekt vor der Lebensgeschichte der anderen. Da, wo die politische und mediale Sprache im Vagen bleiben, können Autoren konkret werden, die Vielschichtigkeit eines Lebens veranschaulichen.“

Recht hat sie, einerseits. Das Wort „Flüchtling“ wird in der deutschen Debatte zur Vernebelung benutzt – der Tatsache, dass sich unter den Tausenden derer, die sich auf den Weg vor allem nach Deutschland machen, Menschen verbergen, deren Schicksal und Absichten sich völlig voneinander unterscheiden. „Flüchtling“ im strikten Sinn sind sie alle nicht, da sie bereits vor der Ankunft in Deutschland in einem sicheren Land waren, viele von ihnen aber sind Menschen, denen Schutz gewährt werden soll und muss. Einen Anspruch auf Asyl wiederum hat nur, wer eine persönliche Verfolgung zu beklagen haben. All jenen aber, die auf der Suche nach einem besseren Leben sind, kann man Verständnis entgegenbringen, ein Anspruch leitet sich daraus jedoch nicht her. Unter der Verschleierungsvokabel „Flüchtlinge“ steckt also ein gewaltiges Potential, vor allem eines für Konflikte. Das wäre eine spannende Erzählung: wie der schwule Blogger sich gegen einen jungen Muslim behaupten muss, der seine homoerotischen Neigungen unter aggressiver Schwulenfeindlichkeit verbirgt, wie die junge Mutter zweier Kinder bei einem Mann Schutz sucht, der sich als so gewalttätig entpuppt, wie die Brüder zuhause, vor denen sie geflohen ist...

Andererseits: es steht zu befürchten, dass die Schriftstellerin genau das nicht meint, wenn sie schließt: „Wenn ich die Erfahrung eines einzelnen Menschen anschaulich mache, ist das schon ein politischer Vorgang.“ Man kann sich vorstellen, welchen „einzelnen Menschen“ sie meint: eine Ikone des Opfertums, großäugige Kinder, weinende Frauen. Stoff für Literatur? Gewiss. Politisch? Nur im Sinne jenes Politikbegriffs, demzufolge es darauf ankomme, in Menschen Gefühle zu erzeugen. „Ein Bild sagt mehr als alle Worte“: darin fasst sich die Absicht der medial erzeugten Propaganda zusammen.

Das Politische hat es nunmal genau mit dem zu tun, was die Schriftstellerin anprangert, mit dem Allgemeinen, also mit Statistik und großen Zahlen. Die politische Aufgabe, an der die Merkel-Regierung in Sachen Migrationskrise gescheitert ist, besteht ja genau darin, zu erklären, was sich unter dem unzutreffenden Allgemeinbegriff „Flüchtling“ jeweils verbirgt. Das Land, „die Allgemeinheit“, muss wissen, wer hierhin kommt und mit welchen Absichten, wer gehen muss und wer bleiben kann. Wir brauchen Zahlen und Statistik. Der Einzelfall gehört der Literatur.

Die Verwechslung von Politik mit Literatur verheert die politische Debatte. Die „politische Literatur“ überlebt ausgerechnet da, wo sie nicht hingehört. Sie hat schon der Literatur nicht gut getan, dem Politischen sui generis aber hat sie den Garaus gemacht. Politik, so glauben ihre Kommunikatoren heute, braucht eine Erzählung. Ein Gefühl. Etwas, das betroffen macht. Alles, nur keine kalten Fakten oder soetwas Brutales wie die Wirklichkeit. Politik ist heute ein einziger großer Roman namens „Der Alte aus der Eifel.“

Dem geneigten Schweizer Publikum sei das erklärt: die bundesdeutsche Ministerin für Arbeit und Soziales, Andrea Nahles, begründete ihre Entscheidung, das Renteneintritts-alter wieder auf 63 Jahre zu senken, mit dem Schicksal ihres Vaters, der mit 61 nicht mehr arbeiten konnte. „Mein Vater war Maurer und ist mit 73 Jahren gestorben. Wenn mir da einer mit Arbeiten bis 70 kommt, werde ich sauer”, sagte sie Bild am Sonn-tag. Papi also ist der Maßstab für alle Menschen in der Bundesrepublik, ach was: die Eifel ist die Welt! Im Bundestag stimmte Nahles das Pippi-Langstrumpf-Lied an, das dieses Politikverständnis auf den Punkt bringt: „Ich mach’ mir die Welt, wie sie mir gefällt.“ Dass das Thema ihrer Magisterarbeit an dieser Weltsicht schuld ist, möchte ich ihr indes nicht unterstellen. Es lautete: „Funktion von Katastrophen im Serien-Liebesroman“.

Ihre Kollegin, Familienministerin Manuela Schwesig, tut es ihr nach. „Mein Vater ist Schlosser, der hat jahrelang auf dem Bau gearbeitet, der hat es nicht mal bis 65 geschafft, weil seine Knochen kaputt sind“, sagte sie jüngst im Fernsehen, als es um die Rente ging. Übrigens ist ihr Neffe Polizist, sie schöpft also auch hier direkt aus der Quelle.

Was so volkstümlich daher kommt - seht her, ich bin ein Mensch wie du und ich! – ist zu einer Unsitte geworden, die jedes politische Gespräch abtötet. Allgemeine Aussagen werden mit dem Verweis auf eigene Erfahrungen und subjektives Empfinden zurückgewiesen, was etwa so logisch ist wie der entrüstete Ausruf des Kunden zum Handwerker, der den Fernseher reparieren soll: „Gestern ging er doch noch!“

Warum fällt es offenbar vielen schwer, zwischen einer verallgemeinernden Aussage (Statistik und „kalte Zahlen“!) und persönlichen Erfahrungen zu unterscheiden?
Der politische Journalismus pflegt die Verwechslung von Literatur und Politik schon lange. Beim „Spiegel“ nennt man einen Artikel denn auch treffenderweise „Geschich-te“. Eine Geschichte beginnt mit einem Einzelfall, der in der folgenden Beweisführung zum Exemplarischen hochgesampelt wird. Einzelschicksal und die Ich-Perspektive gelten als authentisch, was sie natürlich nicht sind, ein subjektiv schweres Schicksal mag man bedauern, aber dass es fürs Ganze steht, müsste eine saubere Recherche erst beweisen.

Neuerdings nehmen Journalisten sogar sich selbst als Maßstab. „Das Private ist politisch?“ Was für ein Missverständnis! Als politische Masche ist es eine Zumutung. Unübertroffen Angela Merkel, die, wenn das Volk Politik nicht darauf reduziert sehen möchte, ein „freundliches Gesicht“ zu zeigen, wo es um Angelegenheiten von allgemeiner Bedeutung wie die Hoheit über die eigenen Grenzen geht, „dann ist es nicht mehr mein Deutschland“ repliziert. Mit Verlaub: mich interessiert die „Stimme des Herzens“ nicht, wenn es um Entscheidungen geht, die auf gravierende Weise die Allgemeinheit betreffen. A bisserl Verstand wäre uns Untertanen lieber.

Was aber die Literatur betrifft: nur ihr gehört das Subjektive, der unverstellte Blick aufs Einzelne, Einmalige. Sie sollte es vor politischem Missbrauch bewahren.

NZZ, 2. Juni 2016

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